Das EU-Mercosur-Abkommen auf dem Prüfstand
Stimmen von Industriegewerkschaftern aus Argentinien, Brasilien und Uruguay
Autorin: Julia Eder, Fachexpertin für EU & Internationales, PRO-GE
Seit 30 Jahren steckt das EU-MERCOSUR-Abkommen in zähen Verhandlungen mit Aufs und Abs. Wegen der neuen geopolitischen Lage – die Wiederwahl Trumps, der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die Folgen der Corona-Pandemie und Chinas Aufschließen zur Weltspitze – möchten die Europäische Kommission und einige Mitgliedsstaaten das Abkommen nun endlich abschließen.
In Österreich gibt es aber sowohl vom Nationalrat als auch von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, inklusive Gewerkschaften, einen Beschluss gegen das Abkommen. Befürchtet wird der Verlust von Arbeitsplätzen, eine Senkung von arbeitsrechtlichen und Lebensmittelstandards sowie eine europäische Landwirtschaft unter Wettbewerbsdruck. Für das Abkommen treten insbesondere die europäische Auto(zuliefer)industrie, chemische und pharmazeutische Industrie sowie der Maschinenbau ein. Das EU-MERCOSUR-Abkommen soll für europäische Produzenten neue Absatzmärkte schaffen und so auch Arbeitsplätze sichern. Zugleich sind sogar laut offiziellen Schätzungen der London School of Economics mit + 0,1% BIP-Wachstum bis 2032 (für die gesamte EU!) die positiven Effekte des Abkommens äußerst bescheiden.
Gegen das Abkommen gibt es auch im MERCOSUR Widerstand. Eine Delegation der PRO-GE rund um unseren Vorsitzenden Reinhold Binder hat auf dem IndustriALL Global Union Kongress im November 2025 mit Vertretern von Industriegewerkschaften aus den MERCOSUR-Ländern Argentinien, Brasilien und Uruguay gesprochen und sie gefragt, warum sie weiterhin gegen das Abkommen sind.
Wo steht das Abkommen in der EU?
Im Juli 2019 hatten die Europäische Kommission und der MERCOSUR die Verhandlungen für das EU-MERCOSUR-Abkommen abgeschlossen. In den Jahren 2023 und 2024 erfolgten Nachverhandlungen, die vor allem Zugeständnisse an die MERCOSUR-Staaten beinhalteten. Beispielsweise wurde ein Ausgleichsmechanismus geschaffen, der eine Beschwerde bei einem Schiedsgericht ermöglicht, wenn Politikmaßnahmen die positiven Effekte des Abkommens aufheben könnten. Es wird befürchtet, dass MERCOSUR-Staaten damit gegen EU-Regulierungen wie den CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM), die Entwaldungsverordnung und die Lieferkettenrichtlinie vorgehen könnten.
Ende 2024 wurde schließlich zwischen der Europäischen Kommission und den MERCOSUR-Staaten das nachverhandelte Abkommen unterzeichnet. In Kraft getreten ist es aber noch nicht. Dafür müssen noch der Rat der EU sowie das Europäische Parlament zustimmen. Der politische Teil des Abkommens erfordert außerdem das Okay der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten.
Im September 2025 hat die Europäische Kommission dem Rat der EU das nachverhandelte Abkommen vorgelegt. Die Abstimmung darüber soll noch Ende dieses Jahres erfolgen. Dann erst kommt das Abkommen ins Europäische Parlament und – noch später – der politische Teil in die nationalen Parlamente.
Aktueller Stand EU-Mercosur
- Das EU-Mercosur-Abkommen soll kurz vor Weihnachten – gesplittet in einen handelspolitischen und einen politischen Teil – im Rat der Europäischen Union abgestimmt werden.
- Wenn alle Mitgliedsstaaten zustimmen, können beide Teile vorläufig angewendet werden. Der politische Teil braucht Einstimmigkeit, weil alle nationalen Parlamente ihn ratifizieren müssen.
- Können sich die Mitgliedsstaaten nicht einigen, tritt nur der handelspolitische Teil in Kraft (wenn 15 Mitgliedsstaaten mit mindestens 65% der EU-Bevölkerung mit qualifizierter Mehrheit dafür stimmen).
- Dem handelspolitischen Teil müssen die nationalen Parlamente nicht zustimmen, weil Handelspolitik reine EU-Kompetenz ist.
- Einstimmigkeit ist aktuell sehr unwahrscheinlich, aber auch eine qualifizierte Mehrheit für den handelspolitischen Teil ist unsicher.
- Unter anderem Frankreich, Belgien, Polen, Irland und Ungarn haben sich früher gegen das Abkommen ausgesprochen. Sie tun das entweder weiterhin oder halten sich bedeckt.
- Österreich hat aus 2019 einen Nationalratsbeschluss gegen das Abkommen. Bundeskanzler Christian Stocker erklärte im Oktober 2025, dass er den Beschluss bei der kommenden Abstimmung respektieren wolle.
Wie ist die Lage im MERCOSUR?
Der MERCOSUR ist ein EU-ähnliches Gebilde und besteht aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Wie in der EU wird über Handelsabkommen als gesamter Block abgestimmt. Je nachdem, wer in der Regierung sitzt, waren die Staaten während der vergangenen 30 Jahre mal mehr für, dann wieder stärker gegen das Abkommen. Aktuell sind Argentinien mit dem ultraliberalen Präsidenten Milei, das traditionell wirtschaftsliberale Uruguay mit seiner linken Regierung sowie das exportorientierte Paraguay mit seinen Sonderwirtschaftszonen für die Unterzeichnung des Abkommens. Lula, der sozialdemokratische Präsident Brasiliens, ist auch dabei, das Nein seiner Arbeiterpartei PT zum Abkommen fallen zu lassen.
Wer hat etwas vom Abkommen im MERCOSUR?
Die Exporte der MERCOSUR-Staaten auf den Weltmarkt sind vor allem Rohstoffe und landwirtschaftliche Güter. Rohstoffe aus den MERCOSUR-Ländern kommen auch jetzt schon fast ungehindert nach Europa. Sie wären kaum betroffen. Es sind vor allem große landwirtschaftliche Konzerne – das sogenannte Agrobusiness –, die das Abkommen mit der EU unbedingt haben möchten. Aktuell ist die EU-Landwirtschaft stark protektionistisch geschützt und Importe aus den Ländern Südamerikas dürfen bestimmte Mengen nicht übersteigen. Das Abkommen setzt die Quoten für die erlaubten Einfuhren in die EU hinauf. Die Agrarindustrie ist extrem stark und hat eine größere Lobbymacht als die Industrie in den MERCOSUR-Ländern.
Was sagen die Industriegewerkschaften zum Abkommen?
Die Industriegewerkschafter betonen, dass der Handel mit Europa ungleich ist: Europa exportiert Güter mit hoher Wertschöpfung und viel Wissen nach Südamerika, während von dort landwirtschaftliche Güter, Rohstoffe und Produkte mit niedriger Wertschöpfung nach Europa gehen. Die Industriegüter wurden traditionell nur zwischen den MERCOSUR-Ländern gehandelt, weil sie am Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig sind.
Nach Unterzeichnung des Abkommens fürchten sie den Verlust von Industriearbeitsplätzen wegen europäischer Konkurrenz, zum Beispiel in der argentinischen und brasilianischen Autozulieferindustrie und in der uruguayischen milchverarbeitenden Industrie. Unter anderem für diese Bereiche fordern die Gewerkschafter Schutzklauseln und einen langsameren Zollabbau. Beides ist aktuell nur für den Handel mit fertigen Autos vorgesehen. Der Wegfall von Industriearbeitsplätzen im MERCOSUR wird dort die Kaufkraft der Mittelschicht, z.B. für europäische Autos, schwächen. Dann werden die Wachstumseffekte des Abkommens vermutlich noch geringer ausfallen.
Auch die öffentliche Beschaffung ihrer Länder möchten die Gewerkschafter aus den MERCOSUR-Staaten erst nach langen Übergangsfristen von 15-20 Jahren für europäische Konzerne öffnen. Denn die Stärkung lokaler Wertschöpfung durch öffentliche Aufträge ist – wie in Europa – auch dort ein Thema und aktuell ein wichtiger industriepolitischer Hebel zur Sicherung von Arbeitsplätzen und heimischer Produktion. Bei der Neuverhandlung gab es in diesem Bereich wichtige Zugeständnisse an die MERCOSUR-Seite.
Ein weiterer großer Kritikpunkt ist die fehlende Transparenz. Die Industriegewerkschafter sagen, sie kennen die Details des Abkommens nicht (diese sind in der EU auch erst seit September 2025 öffentlich zugänglich). Das finden sie problematisch. Bald werden die brasilianischen Kollegen ein Treffen mit Präsident Lula haben, um ihm die Kritik an bekannten Inhalten des Abkommens mitzuteilen.
Sie kritisieren die fehlende frühzeitige Einbindung und den Mangel an Mitsprache für die Gewerkschaften. Gesellschaftliche und Arbeitnehmer:inneninteressen sind im Abkommen nicht ausreichend abgebildet. Aus diesem Grund haben auch der lateinamerikanische Gewerkschaftsbund (TUCA) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) gemeinsam mehrere Dokumente gegen das Abkommen veröffentlicht.
Die Verletzung von Arbeitnehmer:innenrechten ist im Rahmen des Abkommens nicht sanktionierbar. Es kann deshalb gute Arbeitsrechte, ökologische Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung für beide Wirtschaftsblöcke nicht garantieren. Gewinne und Verluste werden ungleich verteilt sein. TUCA und der EGB fordern deshalb die Parlamente beider Blöcke auf, dieses Abkommen abzulehnen und neue Verhandlungen mit Respekt für Arbeitnehmer:innenrechte, Umwelt und natürliche Ressourcen sowie unter Einbindung der Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks zu starten.
Ausblick im MERCOSUR
Die Gewerkschafter haben betont, dass sie in erster Linie die Zusammenarbeit innerhalb des MERCOSUR stärken wollen und erst in zweiter Linie ein Abkommen mit der EU anstreben. Dieses soll aber faire Bedingungen enthalten und nicht die historischen Abhängigkeiten aufrechterhalten.
Das IndustriALL Regionalbüro für Lateinamerika und die Karibik unterstützt außerdem die Mitgliedsgewerkschaften der MERCOSUR-Länder dabei, nationale Industriepolitik auszuarbeiten. Außerdem überlegen sie, welche nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Industriezweige sie grenzüberschreitend fördern könnten. Zu den Chancen und Herausforderungen von Industriepolitik wollen sie sich auch mit uns in Österreich weiter austauschen.