Interview
Sozialstaat armutsfest machen
Die Inflation steigt und steigt, die Teuerungen bringen viele Menschen in Bedrängnis. Doch was sind die geeigneten Instrumente, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten? Und wie sind die KV-Abschlüsse der Frühjahrslohnrunde 2022 zu bewerten? Die PRO-GE hat mit AK-Wien-Chefökonom Markus Marterbauer gesprochen und um seine Einschätzung gebeten.
Im April lag die Inflation bereits bei 7,2 Prozent, für den Mai wird sie auf acht Prozent geschätzt. Die Preise für Energie, Wohnen und Lebensmittel steigen rasant. Wird sich dieser Trend fortsetzen?
Marterbauer: Die Inflation wird auch in den kommenden Monaten hoch sein. Hohe Strom- und Gaspreise kommen erst mit Verzögerung bei den VerbraucherInnen an. Die sachlich nicht gerechtfertigte Anhebung der Richtwertmieten vom April wird sich erst in der Inflationsrate niederschlagen, auch die Lebensmittelpreise werden noch anziehen. Gegen Jahresende sollten die Inflationsraten aber langsam geringer werden und für den Jahresdurchschnitt kann nach +6,5 % für 2022 mit etwa 4 % für 2023 gerechnet werden.
Energiekonzerne profitieren derzeit überproportional, da der Gaspreis den Strompreis bestimmt. Was sind geeignete Maßnahmen, damit Teile dieser Einnahmen wieder an die Kunden zurückfließen?
Die Energiemärkte funktionieren nicht, hier muss der Staat regulierend eingreifen. Ein Gaspreisdeckel nach spanischem Vorbild würde den Strompreis rasch senken. Die ungerechtfertigten Übergewinne bei den Energieversorgern, die Strom mit Wasser, Wind und Sonne produzieren, müssen besteuert werden. Es kann nicht sein, dass ein Teil der Energieversorger Rekordgewinne auf dem Rücken der VerbraucherInnen macht.
Die Energiemärkte funktionieren nicht, hier muss der Staat regulierend eingreifen.
Was muss getan werden, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen in Armut abrutschen?
Am wichtigsten ist es, den Sozialstaat armutsfest zu machen. Die untersten Sozialleistungen müssen dauerhaft und kräftig angehoben werden. Die Armutsgefährdeten brauchen aber vor allem auch den Ausbau von Kindergärten und Schulen mit ganztägiger Öffnung, ein besseres soziales Pflegesystem, mehr sozialen Wohnbau und sie brauchen Jobs, von denen sie leben können. 1.700 Euro kollektivvertraglicher Mindestlohn ist angesichts der Teuerung überfällig. In Deutschland wird dieser Mindestlohn mit 1. Oktober erreicht, das muss doch auch bei uns möglich sein.
Finanzminister Brunner hat sich für die Abschaffung der kalten Progression ausgesprochen. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?
Die hohe Teuerung verlangt nach einer raschen Steuerreform, die die kalte Progression zurückgibt sowie die Einkommensteuer und das gesamte Steuersystem progressiver macht. Der Eingangssteuersatz sollte von derzeit 20 % gesenkt werden, für hohe Einkommen, hohe Kapitalerträge und hohe Unternehmensgewinne sollen die Steuersätze aber auch steigen.
Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander, trotz allem gibt es in Österreich bis dato keine nennenswerte Besteuerung von Vermögen. Was würde eine Vermögenssteuer für das Budget bringen und würde sie – wie von Gegnern dieser Steuer oft behauptet – den Wirtschaftsstandort gefährden?
Das Zusammenspiel von Covid-Krise und Energiepreisschock verschärft die soziale Spaltung und wird die Debatte um Vermögenssteuern noch einmal befeuern. Das Steueraufkommen hängt vom Modell ab. Als Faustregel gilt weltweit: Eine Steuer auf das Vermögen des reichsten Prozent der Haushalte bringt pro Prozentpunkt Steuersatz ein Aufkommen von etwa 1 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das wären in Österreich 4 Milliarden Euro. Eine Vermögenssteuer bringt also zumindest einen hohen einstelligen Milliardenbetrag pro Jahr. Dazu kommt eine Erbschaftssteuer mit einem Aufkommen von etwa einer Milliarde Euro.
Die industrielle Frühjahrslohnrunde 2022 ist geschlagen. Wie sind die aktuellen Kollektivvertragsabschlüsse einzuordnen und besteht die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale?
Für die Kollektivvertragsverhandlungen ist die Inflationsrate der letzten 12 Monate relevant. Die betrug für die Frühjahrslohnrunde 3,5–4 %. Die Abschlüsse von etwa 4,75 % sind also sehr erfolgreich, auch weil sie in nur zwei, drei Verhandlungsrunden erreicht wurden. Eine Lohn-Preis-Spirale ist in Österreich nicht möglich: Löhne reagieren auf Preise, nicht umgekehrt.
Eine Lohn-Preis-Spirale ist in Österreich nicht möglich: Löhne reagieren auf Preise, nicht umgekehrt.
Im Herbst wird wieder der neue Kollektivvertrag für die Metallindustrie verhandelt. Das Ergebnis gilt als richtungsweisend für andere Branchen. Angesichts der steigenden Inflation und des sich leicht abschwächenden Wirtschaftswachstums: Wie groß ist der Spielraum der Gewerkschaften?
Der Kollektivvertrag muss die Kaufkraft sichern, vor allem für untere und mittlere Einkommensgruppen. Gleichzeitig gilt es zu berücksichtigen, dass die Industrie Rekordjahre hinter sich hat, die Industrieproduktion stieg in Österreich in den letzten sieben Jahren um 30 % rascher als in Deutschland.